Leipziger Preis

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Die Kenntnis der Menschenrechte reicht allein nicht aus, wenn die Bereitschaft fehlt, sie überall und unter allen Umständen zu verteidigen

Laudatio für Alain Vivien von Staatsminister Dr. Günther Beckstein
 
Meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Minister Vivien,

Ich freue mich sehr, dass ich heute bei ihnen in Leipzig sein darf. Es ist mir eine große Ehre, dass ich heute die Laudatio zur Verleihung des "Menschenrechtspreises des Europäisch-Amerikanischen Bürgerkomitees für Menschenrechte und Religionsfreiheit in den USA" an Herrn Minister Vivien halten darf. 

Dieser Menschenrechtspreis wird nunmehr zum dritten Mal hier in Leipzig vergeben. Bei seiner erstmaligen Verleihung im Jahre 2000 hat sich das Komitee nicht zufällig für Leipzig entschieden: mit den Bürgern der Stadt Leipzig verbindet man die Auseinandersetzung mit totalitären Organisationen und Regimen. 

[Leipzig]

Vor mehr als 10 Jahren wollten sich die Bürger der Stadt Leipzig nicht länger mit einem totalitären System abfinden. Sie haben sich gegen den Stasi-Staat aufgelehnt, der die Freiheit des Einzelnen negierte, und sie gingen für Menschenrechte und Glaubensfreiheit auf die Straße. 
Ich selber erinnere mich noch an die sehr eindrucksvollen Veranstaltungen, die Montagsdemonstrationen im November und Dezember 1989. Ich muss gestehen, das sind für mich unvergessliche und unvergessene Demonstrationen wo zig-Tausende von Menschen spontan auf die Strasse gegangen sind, um mit ganz friedlichen Mitteln, nämlich mit dem Demonstrationsrecht, für eine Veränderung einzutreten und zu kämpfen. 
Wenn wir im Verfassungsrecht heute davon sprechen dass die Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht die "Pressefreiheit des kleinen Mannes" ist, so ist das, glaube ich, in Leipzig eine Realität, wie sie wohl sonst nirgends in Deutschland in diesem Umfange wirklich eingetreten ist. 
Ich erinnere mich auch noch recht gut , ich war damals der für die Polizeifragen zuständige Staatssekretär in Bayern, wie ich in dieser sehr bewegten und bewegenden Zeit auch mit der Polizei in Leipzig zusammengekommen bin - und wo man von denen die Einsatzpläne gehört hat und auch deren Nervosität gespürt hat, ob alles friedlich bleibt. 
Im Nachhinein muss man sagen: Gott sei Dank, ja! - Es war ein grosses Zeichen, das von Leipzig aus, zumindest für ganz Deutschland, nein, für ganz Europa ausgegangen ist. Und deswegen ist Leipzig auch der richtige Platz für die Verleihung dieses Preises, sonst würde ich das wohl nicht sagen. Wenn ein Bayer irgendwann mal zugibt, das irgendwo anders ausserhalb Bayerns ein viel geeigneterer Platz ist, dann will das wohl etwas ganz besonders bedeuten. 
(Applaus) 

Ich hoffe, dass sie diese saloppe Bemerkung, wie der Beifall zeigt, in der richtigen Weise verstanden haben und nicht etwa als einen Ausdruck von [bayrischer] Arroganz. 

Wie die Leipziger Bürgerinnen und Bürger will sich auch das Europäisch-Amerikanische Bürgerkomitee nicht mit totalitären Systemen abfinden. Es setzt sich insbesondere mit neuen totalitären Organisationen, wie insbesondere die Scientology-Organisation auseinander und engagiert sich weltweit für Menschenrechte und Religionsfreiheit. 

[Minister Vivien]

Auch dieses Jahr hat das Komitee für seinen Menschenrechtspreis einen würdigen Preisträger gefunden. Mit Minister Vivien erhält eine herausragende Persönlichkeit der französischen Politik und ein Mann mit außerordentlichem Mut und Engagement diesen Preis. Ich finde es auch wirklich gut und interessant wenn ein Angehöriger der Christlich-Sozialen-Union, wenn jemand der in der Kampagne von Edmund Stoiber als der Träger des Kompetenzfeldes "innere Sicherheit" für den Bundestagswahlkampf 2002 vorgesehen ist, wenn so jemand für einen sozialistischen Minister eine Würdigung hält. Denn das zeigt: Wenn es wirklich um essentielle Fragen geht, dann dürfen nicht die Fragen der Parteiungen im Vordergrund stehen, sondern dann muss es entscheidend sein, dass man sich in elementaren Fragen über alle Grenzen zwischen den demokratischen Parteien hinweg einig ist. Und ich möchte gerade diese Würdigung eines konservativen Unionsmannes für einen sozialistischen Minister genau in diesem Sinne als einen Ausdruck der Gemeinsamkeit in Grundfragen, im Kampf gegen Totalitarismus ansehen. 
(Applaus) 

[Totalitäre Bewegungen und Organisationen]

Seit vielen Jahren treten Sie, Herr Minister Vivien, trotz massiver Anfeindungen, unermüdlich für die Aufklärung über die Gefahren ein, die von neuen totalitären Bewegungen und Organisationen ausgehen, ebenso wie für entsprechende staatliche Schutzmaßnahmen. Bereits 1983 haben Sie sich als einer der ersten Politiker mit Sekten, totalitären Bewegungen und mit den damit einhergehenden Problemen befasst. Von Herrn Premierminister Pierre Mauroy wurden Sie beauftragt, in der Französischen Nationalversammlung den ersten Situationsbericht über diesen problematischen Themenbereich zu erstellen. 

[MILS]

Im Jahre 1993 erarbeiteten Sie den ersten französischen Enquête-Bericht zu Sekten und totalitären Organisationen. Seit November 1998 leiten Sie als Präsident die "Mission Interminsterielle pour la lutte contre les sectes" (Interministerielle Gruppe zur Sektenbekämpfung, die MILS) und legen jährlich ihren Bericht vor. Sehr früh haben Sie die Mehrdimensionalität des Problems erkannt. In Ihren gründlichen Analysen haben Sie die Gefährdung der Freiheit des Einzelnen ebenso wie die Gefährdung der freien Gesellschaft im Ganzen durch neue totalitäre Bewegungen und Organisationen aufgezeigt.
 
[Scientology Organisation]

Wie noch kein anderer vor Ihnen haben Sie in eindeutiger Weise öffentlich zur Scientology-Organisation Stellung bezogen. Sie qualifizierten die Scientology-Organisation als eine "totalitäre" und "extrem gefährliche Sekte", die in Frankreich verboten werden sollte.

[MILS-Bericht zu SO]

Auch der Bericht der MILS vom Januar 2000 kommt zu einer eindeutigen Bewertung der Scientology-Organisation: Die Propagierung religiöser Ziele sei nur eine Maske für eine Organisation mit totalitärer Struktur. Dem Staat stehe es zwar nicht zu, über den Inhalt von Religionen und Ideologien zu befinden, er müsse aber sehr wohl darüber wachen, dass nicht gegen das Gesetz verstoßen wird, wenn die Bezeichnung "religiös" nur als Deckmantel benutzt wird. Der Bericht betont, dass die Scientology-Organisation zu der Gruppe von "Sekten" gehöre, die kontinuierlich - und auch mit grossem Erfolg - versuchen, demokratische Institute und offizielle internationale Organisationen sowie Nicht-Regierungsorganisationen zu infiltrieren. Zudem bewege sich die Scientology-Organisation außerhalb des demokratischen Rahmens, sie störe durch ihre Machenschaften die öffentliche Ordnung und greife die menschliche Würde an. Es wird klar herausgestellt, dass die Scientology-Organisation die Menschenrechte und das gesellschaftliche Gleichgewicht bedroht.

Ich stehe nicht an hervorzuheben dass sie damit ein Pionier der Auseinandersetzung mit Scientology in Europa und der ganzen Welt sind. 

(Applaus) 

Wir wissen dass dazu Mut gehört. Der einfache Weg ist sich abzudecken und abzuducken und Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Ich habe Respekt vor einem Mann, der nicht sich windschnittig macht, sozusagen die Segeln so stellt dass er nicht vom Gegenwind erfasst wird, sondern der seine Verantwortung ernst nimmt, nämlich die Verantwortung sowohl gegenüber den einzelnen Personen, vor allem jungen Menschen, aber auch älteren, also gegenüber den einzelnen Personen, aber auch die Verantwortung gegenüber dem gesamten Staats- und Gemeinwesen. 

Ich glaube dass Sie in der Tat in besonders sorgfältiger Weise sich mit all diesen Phänomenen beschäftigt haben, jedenfalls will ich für meine Mitarbeiter in meinem Ministerium in der zuständigen Abteilung sagen, dass sie sich ausserordentlich intensiv mit den Materialien beschäftigt haben die von Ihnen und Ihren Leuten erarbeitet worden sind und dass wir von Ihnen viel gelernt haben. 

(Applaus) 

Und ich will sehr deutlich unterstreichen, was Sie auch in den Mittelpunkt gestellt haben: dass wir selbstverständlich nicht die Inhalte von Religionen, die Inhalte von Ideologien zu kommentieren haben.

Gerade Sie als ein französischer Politiker sind ja sehr viel weniger angreifbar dafür, Verbindungen mit irgendwelchen religiösen Strukturen zu haben. Ich selber bin in meiner Person zugleich Mitglied der evangelischen Landessynode und bekenne mich zu einer Partei die christlich als ihr Signum führt. Da wird sehr schnell der Verdacht von dritten geäussert werden können, es gehe mir darum, eine Konkurrenzorganisation auszuschalten. Ich habe das vielfach bei Scientology gelesen wenn die sich mit mir beschäftigt haben. Das wird einem französischen sozialistischen Politiker niemand nachsagen können; jeder weiss, dass Religion und Staat in Frankreich streng getrennt sind. 

In Frankreich ist das ja in einer Weise der Fall, die sehr viel strikter ist, als zum Beispiel bei uns in Deutschland. Es ist von ihnen mit grosser Glaubwürdigkeit gezeigt worden, dass es nicht darum geht, eine vielleicht konkurrierende Religion abzuwerten. Nein, es geht darum, den Missbrauch des Begriffs "Religion" für totalitäre Zwecke anzuprangern und zu verhindern. 

Und das haben sie in einer breiten Weise dargestellt: Daß Anforderungen und Regelungen für psychologische und psychische Dienstleistungen aufzustellen sind. Diese Erkenntnisse sind dann auch zu uns übergegangen. Es ist hier nicht der Platz, das im Einzelnen darzustellen, aber ich will auf eines hinweisen: Die bayrische Staatsregierung hat ein Gutachten bei der Universität München in Auftrag gegeben, das nun von den Wissenschaftlern vorgestellt worden ist , in dem die Gefährdungen durch Scientology in einer, wie ich meine, bedrückenden und eindrucksvollen Weise herausgearbeitet worden sind. 

Daß Menschen, die in die Fänge von Scientology gekommen sind und durch die Strukturen und die Elemente der Behandlung von Scientology in ihrem Wesen in massiver Weise beeinträchtigt worden sind - diese Gefahren waren der eigentliche Hintergrund für Ihr Wirken und Sie haben sich in einer besonderen Weise auf ihre Fahnen geschrieben, vor diesen Gefahren zu warnen und ich bedanke mich im Namen vieler Bürgerinnen und Bürger bei ihnen dafür. 

(Applaus) 

In Ihrer Auseinandersetzung mit Sekten und totalitären Kulturen wollten Sie auch die politischen Entscheidungsträger auf diese Phänomene aufmerksam machen und veranlassen sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Ich verrate sicher kein Geheimnis, wenn ich sage mich hat Minister a.D. Blüm angerufen vor einigen Wochen und hat mir gesagt: "Also, in Leipzig wird Minister Vivien diesen Preis erhalten" und er hat mir dann sofort in einer echt Blüm'schen Weise mit hohem Temperament gesagt: "Beckstein, da müssen Sie hingehen, da gehört jemand hin der klare Worte dafür findet (Applaus) um für einen Mann eine Laudatio zu halten, der die verschlafenen Politiker in vielen anderen Ländern erst mal aufgeweckt hat".

[Gefährdungen der Menschenrechte]

Das ist etwas, was ganz eindeutig auch ihr Verdienst ist, dass Sie viele politische Entscheidungsträger auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht haben und veranlasst haben, sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Der französische Staat, der aufgrund seiner Geschichte zu den ersten Menschenrechtsstaaten zählt, hat nicht zuletzt durch Ihre Aufklärungsarbeit die neuen Gefährdungen der Menschenrechte erkannt, er hat nun besondere Vorsorgemassnahmen für die Freiheit des Einzelnen, und die demokratische Ordnung der Gesellschaft veranlasst, um sich gegen den totalitären Missbrauch zu schützen, wie ihn Organisationen, wie insbesondere Scientology, ausüben. Insofern sind Sie, Herr Minister Vivien, Wegbereiter der politischen, strukturellen und gesetzlichen Sicherung der Menschenrechte für die von diesen destruktiven Kulten Betroffenen. Die Schaffung eines gesetzlichen Rahmens für den Schutz der Opfer von Scientology und ähnlicher Organisation durch das französische Parlament ist Ihr Verdienst. Das Komitee würdigt mit diesem Preis Ihr Engagement für die von der totalitären Scientology-Organisation gefährdete Gesellschaft, für Ihr Engagement für die von der Scientology-Organisation angegriffenen und verfolgten Aussteiger, also Ihren umfassenden Einsatz für die Menschenrechte. 

[Bedeutung der Menschenrechte]

Die Idee und die Verwirklichung der Menschenrechte im Wandel der Zeit bedürfen keiner Rechtfertigung. Menschenrechte sind ein wesentlicher Bestandteil unterschiedlicher Wertordnungen. In der Bundesrepublik Deutschland sind die Menschenrechte in der Verfassung verankert und es ist eine der ganz interessanten Aufgaben im Moment für die aktuelle Politik, für die Aufnahme der bei der Regierungskonferenz von Nizza proklamierten Grundrechtecharta in die Europäischen Verträge zu sorgen.
Unser christlich-abendländisches Verständnis der Menschenrechte ist geprägt von der Vorstellung des Menschen als selbstverantwortlichem Geschöpf. Dabei gilt die universell gültige Einschränkung, dass die Rechte eines Menschen ihre Begrenzung in den Rechten des anderen finden. Keine Kultur und keine Religion kann für diese Erkenntnis das Privileg beanspruchen; sie sind Teil jeder Kultur. Dies dürfen wir auch dann nicht vergessen, wenn wir Angriffen auf die Menschenrechte von terroristischer oder extremistischer Seite entgegentreten. 

[Menschenrechtsverletzungen]

Unsere Erfahrungen der vergangen Jahrhunderte, aber auch der jüngsten Vergangenheit zeigen, dass die Kenntnis der Menschenrechte allein nicht ausreicht, wenn die Bereitschaft fehlt, sie überall und unter allen Umständen zu verteidigen. Menschenwürde und Menschenrechte wurden und werden immer wieder auf das Gröblichste verletzt. Wir dürfen aber Menschenrechtsverletzungen nicht hinnehmen. Auch wenn das Bewusstsein um die Bedeutung der Menschenrechte in den letzten Jahrzehnten weltweit gewachsen ist, muss noch viel mehr getan werden, um sie durchzusetzen und gerade angesichts der aktuellen Bedrohung der Menschenrechte in unserer europäischen Gesellschaft und in den USA haben Sie, sehr geehrter Herr Minister Vivien, einen ausserordentlichen Beitrag geleistet.

[Dank]

Für Ihr Eintreten für die Freiheit aller Menschen danken wir Ihnen voller Respekt. Wir wünschen Ihnen dafür weiterhin viel Kraft und Mut. 
Dank gebührt aber auch der engagierten, wichtigen und erfolgreichen Arbeit aller Mitarbeiter der MILS und der Französischen Nationalversammlung, die über alle Parteidifferenzen hinweg durch ihre Gesetzgebung für den Schutz der Menschenrechte vor neuen totalitären Gefährdungen gesorgt hat. Und ich darf hier anfügen, es wäre vielleicht unrealistisch zu wünschen, aber ist jedenfalls eine notwendige Forderung dass auch wir in Deutschland diesen Fragen über alle Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiten um den hier vorhandenen Gefährdungen wirklich ernsthaft begegnen zu können. 

(Applaus) 

[Schlussworte]

Die von Ihnen mit Sachkenntnis und persönlichem Einsatz geführte öffentliche Auseinandersetzung mit dem neuen Totalitarismus der Scientology-Organisation verdient umso mehr Anerkennung, als Sie sich dadurch nicht nur massivem innenpolitischen sondern auch aussenpolitischen Druck ausgesetzt haben, und darüber hinaus auch ganz persönlich als "unterdrückerische Person" zum besonderen Angriffsziel der Scientology-Organisation geworden sind. Ich muss allerdings dazu sagen, ich sehe derartige Angriffe als besondere Form eines modernen Adels; daran erkennt man, dass man richtig liegt wenn man von der richtigen Seite angegriffen wird. 
(Applaus) 

Mögen wir unser gemeinsames Ziel, uns für ein friedliches und freiheitliches Zusammenleben aller Völker einzusetzen, nie aus den Augen verlieren. Dazu gehört es, für Menschenrechte einzutreten, und dazu gehört auch, mutig gegen Gefährdungen durch Totalitarismus einzutreten. Es ist wichtig, daß dass wir uns gerade in Deutschland mit dem Totalitarismus von Rechtsextremen, und ich bitte um Nachsicht, wenn ich auch sage Linksextremen, auseinanderzusetzen. Aber es ist selbstverständlich auch notwendig, dass wir uns mit dem Totalitarismus von Scientology auseinandersetzen, der die Religion als Begriff missbrauchen, um in Wirklichkeit ganz andere Ziele bis hin zur Geschäftemacherei zu verfolgen. Und deswegen danke ich auch Ihnen allen, dass Sie heute hierher gekommen sind um diesen Kampf ein Stück weiter mitvoranzubringen. 

Herzlichen Dank für ihre Aufmerksamkeit. 

(Applaus)