Leipziger Preis
 
 

 

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Die Vernunft muß tapfer sein,
wenn die Freiheit siegen soll 

Rede von Dr. Norbert Blüm nach der Verleihung des Leipziger Menschenrechtspreises 2001 Leipzig, Deutschland, Alte Börse am 10. Juni 2001

Sehr geehrter Herr Minton, verehrte Festversammlung, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, meine Damen und Herren, das zwanzigste Jahrhundert ist an der Spitze aller Fortschrittshoffnungen angekommen, ist zu Leistungen gekommen, die früher in das Reich der Utopie gehörten: Wir haben den Weltraum erobert, den Mars mit der Sonde besichtigt und den Mond betreten. Immer höher, immer schneller, immer grö ßer, das ist die Trinität des Fortschritts. 

Aber beim Blick zurück vom Mond auf diese Erde zeigt diese Welt noch ein anderes Gesicht: Zweihundert Millionen Menschen in diesem Jahrhundert – vernichtet, gefoltert, ermordet, gequält. 200 Millionen. Auch das ist ein neuer Rekord. Aber ein Rekord an Vernichtung von Menschen. 

Zurück auf dieser Erde, stolz auf ihre Fortschritte, erkennen wir eine Welt in Hunger und Not. Millionen von Kindern verrecken, weil sie nichts zu essen, weil sie kein Dach ü ber dem Kopf haben. In hundertfünfzig Ländern dieser Erde wird immer noch gefoltert. Aber wir sind empfindlich geworden gegen die Quälerei von Menschen. Wir sind endlich aufgewacht. Wir schreien auf, wenn Menschen gefoltert werden. Mit Recht. Wir schreien auf, wenn Blut fließt. Mit Recht.

Menschenrechte müssen überall verteidigt werden, ohne Rü cksicht auf Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Intelligenz, Reichtum. Es mag viele Begründungen dafür geben, sich für die Menschenrechte einzusetzen. Meine Begründung ist, alle Menschen sind Kinder Gottes, und deshalb prinzipiell gleich in ihrer Würde. Diese Würde des Menschen, sie ist nicht erst dann gefährdet, wenn seine körperliche Integrität verletzt wird, sie ist nicht erst dann gefährdet, wenn Blut fließt: Es gibt neue sublime Formen der Vernichtung des Menschen ohne das Blut fließt. Es gibt neue Formen des Imperialismus. Wir begreifen Imperialismus noch als Unterwerfung von Völkern, als Eroberung von geographischen Räumen. Als Kolonialismus ist das in die Geschichte eingegangen. Es gibt einen neuen Imperialismus, der erobert keine Räume mehr. Er erobert den Menschen, seine Seele. Er vertreibt die Menschen nicht aus ihren Häusern, sondern aus ihren Köpfen und aus ihrer eigenen Seele. Zu diesen neuen Eroberungs-Organisationen, zu diesem neuen Imperialismus, zu diesen neuen Kolonialisten gehört Scientology. Scientology ist ein großes Geschäft. Man muß nur ihren Gründer Hubbard ernst nehmen: “Macht Geld, macht mehr Geld, macht, daß andere Leute mehr Geld machen.” Das ist das kurzgefaßte Credo (Glaubensbekenntnis) der Scientologen. Und mit großer Raffinesse haben sie dieses Geschä ft in Betrieb gesetzt. Die große Sehnsucht des Menschen, mehr zu sein, sich selbst zu überschreiten, sich selbst zu transzendieren, diese große Sehnsucht des Menschen nach Gott, nutzen sie schamlos aus.

Dr. Norbert Blüm
Foto: Tilman Hausherr

Es ist der alte Trick des Teufels, sich der Maske des lieben Gottes zu bedienen. Für Gemüter mit weniger ausgeprägtem religiösen Vokabular habe ich auch ein anderes Beispiel, es stammt aus Grimms Märchen: Der Wolf, der Kreide frißt und seine schwarzen Pfoten in Mehl taucht und sich als gute Mutter ausgibt – das ist die volkstümliche Variante.

Freilich: Sie beuten eine Sehnsucht des Menschen aus. Mehr sein zu wollen, sich selbst zu ü berschreiten, das ist ein alter Traum des Menschen. Nietzsche hat das Programm des Ü bermenschen verkündet. Das war ein Bruch mit zweitausend Jahren abendlä ndischer Kultur. In der abendlä ndischen Kultur, im christlichen Ethos sollten die Schwachen vor den Starken geschützt werden. Nietzsche verkündet das umgekehrte Programm: die Starken sollen vor den Schwachen geschützt werden. Nietzsche selber ist darüber verrückt geworden. Hitler hat dann das Programm der Herrenrasse verwirklicht. Die Scientologen versuchen auf ihre Weise, diese alte Sehnsucht auszunutzen. Sie bieten Trainings und Techniken, die das Menschliche abtrainieren und das angeblich Übermenschliche einü ben sollen. 

Meine Damen und Herren, solche Techniken, die besser unter dem Stichwort Gehirnwäsche bekannt sind, vernichten Menschen. Die Scientologen fangen damit an, das Leute in Schulden gestürzt werden, dann geht es weiter bis sie total abhängig gemacht sind. Selbst die Sprache verdrehen sie dabei. Ethik – das hehre Wort für die Lehre vom Guten – in der Scientologen-Terminologie ist es das Wort für Kontrolle, Überwachung und Vernichtung der Gegner. Rehabilitation, bekannt als die Wiederherstellung der Integrität des Menschen, ist in Scientology der Begriff für Straflager. Scientology hat Orwells “1984”, eine schreckliche Utopie, in die Realität umgesetzt . Bei Orwell heißt das Propagandaministerium Wahrheitsministerium. Scientology besetzt die Köpfe. Das Ziel der neuen Eroberung heiß t “Köpfe”. Es fließt kein Blut. Die neuen Unterdrücker kommen nicht mit Reitpeitsche und Schaftstiefeln daher. Sie brauchen keine Panzer und keine Raketen. Sie benutzen die Psychotricks, vernichten Menschen unblutig. Und wer in ihren Klauen ist, hat fast keine Chance mehr. Ich nehme den “Leipziger Preis” auch an in Gedenken an Lisa McPherson. Ihren Tod kann ich nicht rückgängig machen. Aber was ich machen kann: Alles dazu beizutragen, daß niemand mehr das Schicksal von Lisa McPherson erleiden muß. 

Das ist der neue Krieg, den wir führen müssen: Nicht mit Waffengewalt, sondern mit der Macht der Argumente. Mit Vertrauen auf Vernunft, daß die Vernunft nicht ausgestorben ist hier auf der Welt. Ich bin ein aufklä rerischer Optimist. Ich setzte darauf, daß das Verlangen der Menschen

  • nach Freiheit, 
  • mit dem eigenen Kopf zu denken, was ich will, 
  • mit dem Mund zu sagen, was mein eigener Kopf gedacht hat, 
  • daß das den Menschen angeboren ist. 
Deshalb ist unsere stärkste Waffe keine Gewalt und kein Verbot. Unsere stärkste Waffe heißt Aufklärung. Scientology die Maske von “Religion” oder “Therapie” vom Gesicht ziehen – das ist unsere Aufgabe. Scientology als eine Krake, als ein menschenverachtendes Kartell zu entlarven.

Hier ist nicht die Sprache der Diplomatie, die Sprache der Verstä ndigung angebracht, hier geht es um deutliche Aufklärung. Ohne Gewalt, ohne Unterdrü ckung, ohne Verbot. Aber mit Deutlichkeit. Den Kopf für eigene Gedanken, dafür Freiheit. Für die eigenen Gedanken, nicht für die vorgeschriebenen, nicht für die indoktrinierten Konzepte der Ideologie. Und ich vertraue darauf, daß das der Hunger der Menschen ist. 

Mein Vertrauen gründet sich gerade auf Städte wie Leipzig. Zwar ist der Kommunismus nicht mit Scientology zu vergleichen, vergleichbar ist aber, daß auch der Sozialismus nicht zusammengebrochen ist unter dem Beschuß von Raketen, sondern zusammengebrochen ist, weil er die wichtigste Frage nicht beantworten konnte, weil er die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit nicht besiegen konnte.

Für diese Auseinandersetzung braucht es aber tapfere Menschen, tapfere wie vor zehn Jahren auch in Leipzig. Die Freiheit ist auch in Leipzig nicht vom Himmel gefallen. Vernunft ohne Tapferkeit ist nur eine akademische Sache. Die Vernunft muß tapfer sein, wenn die Freiheit siegen soll. Und dafür steht das Wort Leipzig und die Tapferkeit der Bürgerbewegung in der DDR. 

Europa und die Vereinigten Staaten sind verbunden durch eine atlantische Partnerschaft. Das Beste, was wir gemeinsam in eine globale Welt einbringen können, ist die Idee der Menschenwürde. Das ist eines der großen Ideale der Amerikanischen Verfassung. Sie ist zwar eine europäische Erfindung; das Konzept der Gewissenfreiheit entstand in Europa. Sie hat aber ihren ersten kraftvollen geschichtlichen Niederschlag erst in den Vereinigten Staaten gefunden durch Bürger, die der damaligen europäischen Unterdrückung entflohen, die ihre Heimat der Freiheit wegen verließen, weil die Freiheit des Gewissens hier in Europa damals noch unterdrückt wurde. Diese Erinnerung darf nicht Vergangenheit sein, angesichts der neuen, raffinierten Bedrohung der Freiheit. Sie zu verteidigen und zu schützen, dafü r brauchen wir eine neue atlantische Partnerschaft im globalisierten Zeitalter, in dem wir eine gemeinsame Menschheit sind. Das wäre der beste Beitrag der atlantischen Partnerschaft. 

Lassen Sie mich zum Schluß Ihnen meinem Dank und Respekt sagen, Herr Minton; lassen Sie mich meinen Dank sagen an alle, die mitkämpfen für die Würde jedes Menschen, der auf Erden lebt. Dafür haben viele Menschen auf der Erde ihr Leben eingesetzt. Auch weiterhin werden tapfere Streiter in dieser großen Auseinandersetzung gesucht. Denn: Es ist heute mit den modernen technischen und psychischen Mitteln, mit all den Psychotricks zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit möglich, eine Gesellschaft glücklicher Idioten herzustellen. Um dies zu verhindern, gilt es, einen Aufstand gegen diese neuen Imperialisten zu organisieren, gegen Scientology. 

Ich schließe mit dem Text eines Liedes, das 150 Jahre alt ist und ich hoffe, daß dies die Menschen in 150 Jahren auch noch singen kö nnen:

Die Gedanken sind frei, 
wer kann sie erraten,
sie fliehen vorbei,
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
es bleibe dabei:
Die Gedanken sind frei.

Alte Börse in Leipzig
Foto Tilman Hausherr

 

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